Erinnerungen an die Zeit vor der Volkskammerwahl 1990 von Dr.-Ing. Rainer Jork +
Wenn ich mich heute, nach 30 Jahren, besinnen will, warum, wieso und
auf welchem Wege ich innerhalb eines guten halben Jahres ohne
Anfangsabsicht von einem in der volkseigenen Industrie tätigen Ingenieur
bzw. vom Ingenieurschuldozenten zum hauptamtlichen
Volkskammerabgeordneten mutierte, dann sehe ich für mich und meine
Familie fünf ganz markante Wegkreuzungen, die zu dieser Entscheidung
führten: das Paneuropäische Picknick am 19. August 1989 in Fertörakos;
die Dresdner Kreisdelegiertenkonferenz der CDU am 30. November 1989; der
Besuch von Helmut Kohl im Dezember 1989; der Kontakt mit der CDU aus
der Radebeuler Partnerstadt St. Ingbert; sowie die
Nominierungsveranstaltung für die Volkskammerwahl im Kreis Dresden und
damit natürlich das Wahlergebnis am 18. März 1990.
Dr. Rainer Jork (CDU), am 18. März 1990 freigewählter
Volkskammerabgeordneter für RadebeulMeine Arbeitsstelle, die
Ingenieurschule für Kraft- und Arbeitsmaschinenbau Meißen, hatte einen
Kooperationsvertrag mit der Universität in Sopron, auf dessen Grundlage
wir unsere Ferien 1989 dort verbringen konnten. Unsere erwachsenen
Kinder waren mit dem Fahrrad in Ungarn unterwegs und eben zu dieser Zeit
bei uns in Sopron. Mit einem kleinen Plakat im Eingangsbereich des
Studentenwohnheims, in dem wir wohnten, wurde in deutscher Sprache zur
Teilnahme an einem paneuropäischen Picknick in Fertörakos „am Ort des
Eisernen Vorhangs“ am 19. August 15 Uhr eingeladen. In dieser Zeit waren
die Botschaften in Budapest und Prag von Ausreisewilligen aus der DDR
dicht gefüllt. Es schien ganz natürlich, dass meine Familie beim
Picknick dabei sein wollte. Wie ich später feststellte, war es richtig,
dass ich mich durchsetzte und wir nicht hingingen. Nahezu 700 DDR-Bürger
stürmten damals stimmungsgeladen die Grenze und flohen nach Österreich.
Wir hatten uns entschieden: Radebeul bleibt unser Zuhause!
Mit dem sichtbaren Wahlbetrug um die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989
war für breite Teile der Bevölkerung der DDR das Maß des Erträglichen
überschritten. Der CDU-Brief aus Weimar vom 10. September ermutigte auch
die Radebeuler CDU-Ortsgruppe, deren Vorstandmitglied ich war, konkrete
Forderungen an den Hauptvorstand der CDU in Berlin zu richten. Danach
wurden mit Schreiben vom 12.10.89 u.a. „erkennbare Maßnahmen zur
Effektivierung der Volkswirtschaft; eine Objektivierung der
Medienpolitik; Reisemöglichkeiten; Aussagen zu Ursachen und
Schlussfolgerungen in der DDR zu Ausreisen, die den objektiven
Realitäten bei uns entsprechen und die Möglichkeit zur Rückkehr
ausgesiedelter DDR-Bürger“ verlangt. Bei der im Rahmen einer
Demonstration am 6. November 1989 in der Radebeuler Sporthalle durch
einen Vertreter der CDU gehaltenen Rede wurden vehement entsprechende
Forderungen , aber auch bereits Rechtssicherheit , geheime Wahlen, eine
schulische Erziehung ohne Bevormundung und eine Überarbeitung der
Subventionspolitik öffentlich formuliert. Die CDU wurde zu einem Motor
in der politischen Entwicklung in Radebeul. Am 30. November1989 sollten
in einer Konferenz der CDU des Kreises Dresden im Dresdner
Carolaschlößchen u. a. die Teilnehmer beim 17. Parteitag der CDU am 15.
und 16. Dezember 1989 in Berlin bestimmt werden. Der Versammlung wurde
eine bereits vorher festgelegte fertige Teilnehmerliste zur Bestätigung
präsentiert, die im Wesentlichen hauptamtliche Mitarbeiter der CDU
aufwies. Hier verlangte ich nun öffentlich, dass die Teilnehmer doch
wohl von der Versammlung vorgeschlagen und gewählt werden, sich vorher
auch vorstellen sollten. Das geschah dann auch so, und ich selbst wurde
Delegierten zum Parteitag. Man lernte, den Mund auf zu machen.
Ich erlebte persönlich den Bundeskanzler Helmut Kohl am 19. Dezember
1989 vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche, wo er spontan sagte: „Mein
Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit
unserer Nation“. Ich konnte mir damals mit Blick auf die gegebenen
Produktions- und Arbeitsbedingungen und die eigenen 20-jährigen
Erfahrungen in der volkseigenen Industrie der DDR allerdings nicht
vorstellen, wie die beiden Wirtschaftssysteme ohne erhebliche
Verwerfungen und Defekte neu und konstruktiv in überschaubarer Zeit gut
funktionierend gestaltet werden könnten, aber von da ab träumte ich von der Einheit Deutschlands und wollte dafür wirken.
Seit dem 24. Juni 1988 bestand offiziell eine Städtepartnerschaft
zwischen Radebeul und St. Ingbert im Saarland, der Heimat von Karl Marx
und Erich Honecker. In der „Erklärung zum Protokollvermerk zur
Vereinbarung der Städtepartnerschaft“ zum gleichen Datum ist zu lesen:
„Durch die Städtepartnerschaft werden keine besonderen Beziehungen
zwischen Betrieben, Einrichtungen, Parteien, Organisationen oder anderen
Gruppierungen bzw. Institutionen begründet“. Immerhin durften
ausgewählte Vertreter der im sog. Demokratischen Block vertretenen
Organisationen und Parteien – natürlich ohne Rederecht – auf
Gästeplätzen anwesend sein. Die Kontaktnahmen, das gegenseitige Abtasten
und das zunehmend freundschaftliche Zusammenwirken der CDU-Mitglieder
in St. Ingbert und Radebeul wurden endlich gegen Ende des Jahres 1989
möglich. Von den CDU-Partnern in St. Ingbert kam dann auch die
Ermutigung dafür, dass ich mich am 9. Februar 1990 zum Vorsitzenden der Radebeuler CDU wählen ließ.
Der Aufforderung, mich für die CDU des Bezirks Dresden als
Kandidat für die kommende Volkskammerwahl aufstellen zu lassen, kam ich
erst nach einigem Zögern nach. Wollte ich doch einerseits jedenfalls
meine Arbeit als Dozent an der Ingenieurschule Meißen, die mich
erfüllte, – auch unter neuen technischen Bedingungen- fortführen. Ich
war unter anderem soeben dabei, das Labor für Automatisierungstechnik zu
aktualisieren. Mit Kollegen der Ingenieurschule besuchte ich unter
ausschließlicher Nutzung meiner privaten Verbindungen vergleichbare
Bildungseinrichtungen in der Bundesrepublik, und wir stellten fest, dass
wir im fachlichen Wettbewerb sehr gute Ausgangsbedingungen vorweisen
konnten. Andererseits war ja überhaupt nicht klar, wie oft die
Volkskammer wohl tagt, welche Arbeitsbedingungen vereinbart werden
würden. Ich ging, wie andere auch, davon aus, dass die
Abgeordnetentätigkeit ehrenamtlich sein wird. Am 24. Februar 1990 wurde
ich als ein Kandidat der CDU des Bezirks Dresden für die kommende
Volkskammerwahl nominiert und stellte mich in den nächsten Tagen im
Dresdner Umfeld vor, wurde dann in der ersten freien Wahl am 18. März
als Abgeordneter gewählt. Meine Vorstellungen waren immer davon geprägt,
dass ein Abgeordneter in sich eine Einheit von Kompetenz, Integrität
und Befugnis bieten muss. Am 5. April fand für mich die erste Sitzung
der Volkskammer in Berlin statt. Eine vorher nicht kalkulierbare,
überaus spannende, lehrreiche und anstrengende Zeit in der „großen
Politik“ begann für mich und meine Familie. Ich wurde ein Teil derer,
die man mitunter als Laienspieler in der Politik bezeichnete.