Europa

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Die EU zu verstehen ist gar nicht so leicht - Ein Blick hinter die Brüsseler Kulissen

Im Oktober 2019 hatte ich Gelegenheit, zwei Wochen in Brüssel zu verbringen, verschiedene EU-Institutionen und Veranstaltungen zu besuchen und mit vielen Menschen ins Gespräch zu kommen, die zum Teil schon seit vielen Jahren in der europäischen Hauptstadt arbeiten.

Meine Eindrücke und Folgerungen von diesem Blick hinter die Brüsseler Europa-Kulissen habe ich nachfolgend zusammengefasst:

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Warum uns die Europäische Union am Herzen liegt?

Gedanken vor der Europawahl: Heute in Europa leben zu dürfen ist ein Glück, um das uns sehr viele Menschen beneiden. Frieden und Sicherheit, Freiheit und Wohlstand sind vier tragende Säulen der europäischen Integration. Das sind Werte und Errungenschaften, für die es sich lohnt, mit aller Kraft, mit Herz und Verstand auch in Zukunft einzutreten.

Dennoch zweifeln mehr Menschen an Europa und der EU, nicht nur in Großbritannien. Zuviel Streit, zu viel Technokraten, zu viele Detailregelungen von Gurkenkrümmungen über Glühbirnen bis Staubsaugern, lauten nur einige der Vorwürfe. Angst vor Kriminalität macht sich breit, vor Überfremdung durch Zuwanderer, vor Vermögensverlust durch die Eurokrise oder durch die Globalisierung. Manch einen beschleicht ein ungutes Gefühl, dass Europa nur bei Schönwetterperioden funktioniert, den aktuellen oder künftigen Herausforderungen aber nicht gewachsen scheint. Ja, es fällt manchmal schwer, im Alltag den Wert der Europäischen Integration zu erkennen. So einiges ist - aus heutiger Sicht betrachtet - auch schief gelaufen. Politische Entscheidungen haben manchmal tatsächliche Schwierigkeiten zeitweise überdeckt. Kritiker wurden an den Rand gedrängt, ja bisweilen mundtot gemacht. Denken wir an die Warnungen bei der Einführung des Euro in Griechenland oder beim Wegfall der Grenzkontrollen ohne ausreichenden Schutz der EU-Außengrenzen. In anderen Bereichen hat sich die EU eingemischt, obwohl es viele Menschen gar nicht wollten. Manchmal waren auch die Fachlobbyisten der einzelnen Mitgliedsstaaten die treibende Kraft im Hintergrund, die eine europäische Regelung ins Leben riefen und dann Brüssel den schwarzen Peter zugeschoben haben. Die Vertrauenskrise der EU hat verschiedene Ursachen. Jetzt sind die Staaten Europas gefordert, zu überlegen, wie es mit Europa mit der EU weitergehen soll, wie verloren gegangenes Vertrauen zurückgewonnen werden kann und welche Änderungen im Selbstverständnis der EU vor allem in der gelebten und erfahrbaren EU-Praxis nötig sind. Unser Vorschlag lautet: Lasst die tragenden Säulen der Europäischen Integration Frieden und Sicherheit, Freiheit und Wohlstand wieder für jeden erfahrbar werden:

Europa wahrt unseren Frieden

1945 lag ganz Europa in Trümmern. Wir kennen die Bilder von Dresden und anderen Städten. Die Gründungsväter der EU wollten ihr „Nie wieder Krieg“ am besten dadurch sichern, indem sich die Länder vor allem wirtschaftlich eng miteinander verbinden. Wer miteinander handelt, wer den anderen braucht, der schießt nicht auf ihn, war ihre einfache Logik. Daraus ist die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und später die EU entstanden. Ergebnis: Über 70 Jahre kein Krieg innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten und das erstmalig in der Geschichte unseres Kontinents! Doch Krieg und Bürgerkrieg, Mord und Zerstörung sind leider nicht verschwunden. Die Nachrichten sind voll davon. In Syrien, Irak, Libyen, im Jemen und im Sudan, ja sogar ganz nah in der Ostukraine leiden Millionen von Menschen unter Krieg und Gewalt.

Europa gibt uns Sicherheit

Islamistische Ideologie, Terror, Flüchtlingsströme, Bürgerkriege und letztlich die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit von Millionen von Menschen berühren auch Europa. Wir aber wollen weiter ohne Angst leben. Deshalb heißt unsere Antwort: Erhöhte Wachsamkeit, Stärkung unserer Sicherheitskräfte und intensivere Zusammenarbeit zwischen den Ländern. Ohne die EU wäre das viel komplizierter, unser Alltag wäre weit unsicherer.

Europa schützt unsere Freiheit

Die Staaten Europas schützen die freie Entfaltung eines jeden Menschen und die Menschenrechte. Seine Meinung frei zu äußern, seinen Glauben zu leben, seine Talente zu entfalten und das alles im gegenseitigen Respekt für andere, das ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen, eine Herrschaft des Rechts bei einem Gewaltmonopol des Staates sind unverzichtbare Voraussetzungen für ein selbstbestimmtes Leben ohne Angst. Doch heute erleben wir auf Neue, dass dies in vielen Ländern nicht oder nicht mehr so ist. Autoritäre Regime, ja sogar Diktaturen sind wieder auf dem Vormarsch.

Europa sichert unseren Wohlstand

Wo wir in Sicherheit und Freiheit unser Leben bestimmen können, dort entfalten sich unsere Talente am besten. Ein gemeinsamer Markt unterstützt das, der Waren, Dienstleistungen, Kapital und auch Menschen die größtmögliche Freizügigkeit bei fairem Wettbewerb gewährt. Ergebnis: Nirgendwo sonst lebt ein so großer Teil der Bevölkerung im wirtschaftlichen Wohlstand wie bei uns in Europa. Wohlstand sichert Lebenschancen, für uns ist das selbstverständlich. Doch darum beneiden uns Millionen junger Menschen, die zu uns drängen. Es lohnt sich also mit aller Kraft und Leidenschaft, mit Herz und Verstand für ein Europa einzutreten, das fest auf diesen vier Säulen steht. Wir müssen fragen: Wie können wir diese vier Säulen am besten sichern? Mag sein, dass die Art und Weise der Erreichung künftig eine andere sein könnte, als bisher, denn auch die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Darüber erwarten wir eine offene Diskussion und ein politisches Ringen um die beste Lösung. Tabus oder Vorverurteilungen helfen nicht weiter. Beispiele: Grenzkontrollen sind lästig. Wenn aber die Sicherung der EU-Außengrenzen nicht hinreichend gewährleistet werden kann oder die Bevölkerung dem EU-Grenzregime nicht vertraut, dann können Grenzkontrollen notwendig werden. Der Euro brachte einen großen Schub an wirtschaftlicher Integration und Deutschland hat davon besonders profitiert. Heute wird allerdings auch immer deutlicher, dass eine gemeinsame Währung eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik voraussetzt. Und doch sehen wir, dass diese schwer zu erreichen ist. Deshalb müssen Alternativen zur jetzigen Währungsunion gedacht und ergebnisoffen diskutiert werden dürfen. Personenfreizügigkeit ist ein hohes Gut. Wir sehen aber, überhöhte Einwanderung, auch wenn sie nicht vorrangig in die Sozialsysteme erfolgt, löst Fremdenfeindlichkeit und Abwehrreflexe aus, wie sie auch bei der BREXIT-Entscheidung zum Ausdruck kam. Wir müssen fragen, inwieweit Staaten ihre Einwanderungspolitik einschließlich des Zuzugs von EU-Bürgern eigenständig regeln können sollen.

Vertrauen gewinnt, wer zentrale Fragen, die viele auch emotional bewegen, offen diskutiert und um die besten Antworten ringt. Vertrauen gewinnt, wer die zentralen Werte der EU mit Leben erfüllt und sie im täglichen Leben der Bürger erfahrbar macht. Machen wir uns gemeinsam auf den Weg. Für eine erneuerte EU in Frieden und Sicherheit, Freiheit und Wohlstand!

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Welches Europa wollen wir?

Der kürzliche Diskussionsabend der Radebeuler CDU mit dem Leiter des Europabüros des Sächsischen Landtags Thomas Starke förderte erstaunliche Neuigkeiten über die EU zu tage: Oft wird die Regelungswut der EU-Kommission beklagt, die Dinge bis ins Kleinste vorschreibt. Doch kaum jemand weiß, dass EU-Kommissionspräsident Juncker da massiv gegensteuert. So hat er die Anzahl der Vorschläge für neue Rechtsakte der EU bereits auf ein Drittel reduziert.
Oft wird Brüssel für Vorschriften verantwortlich gemacht, die aus deutscher Sicht unverständlich sind. Doch jede EU-Regelung wird mit Zustimmung der Regierungen der Mitgliedsstaaten erlassen. Am Beispiel der Verlängerung der Zulässigkeit von Glyphosat durch die Zustimmung von Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt wurde das deutlich. Wer also eine EU-Regelung kritisiert, der sollte immer auch die eigene Regierung kritisieren, die der EU-Regelung zugestimmt hat. Wenn nationale Regierungen allein auf Brüssel zeigen, dann ist das nicht fair. Die am 1. April 2017 verbreitete Meldung, die EU plane aus Klimaschutzgründen ein europaweites Grillverbot, hat sich als harmloser Aprilscherz entpuppt! Doch allein die Diskussion darüber stimmt nachdenklich darüber, was mancher Bürger der EU nicht so alles zutraut.

Thomas Starke, Leiter des EU-Büros des Sächsischen Landtags in Brüssel skizzierte zunächst die Entwicklung der Europäischen Einigung von den Trümmerfeldern des 2. Weltkriegs bis heute. Zentrale Ziele der europäischen Integration sind: Frieden, Wohlstand, Demokratie, Freizügigkeit, Sicherheit, Freiheit und Recht. In all diesen Feldern wurde durch viele kleine Schritte viel erreicht.

  • Seit 70 Jahren gibt es keinen Krieg in der EU.
  • Die Entwicklung des Binnenmarktes hat Millionen von Europäern ein Leben in Wohlstand ermöglicht.
  • Die freiheitlich-demokratischen Staaten Westeuropas wirkten anziehend auf die Demokratiebewegungen im Süden, wo lange Zeit Militärdiktaturen herrschten, aber auch nach Osteuropa und heute auf den Balkan.
  • Jeder EU-Bürger kann in jedem anderen EU-Land leben und arbeiten.
  • Es gibt einen europäischen Haftbefehl, Europol als europäische Polizeibehörde. Eine Grenzschutztruppe der EU zum Schutz der Außengrenzen wird gerade aufgebaut.

Als Problemfelder benannte der Referent, dass in wichtigen Bereichen wie etwa der Währungspolitik oder dem Schutz der Außengrenzen EU-Recht nicht umgesetzt werde. Das führt zu einem Vertrauensverlust. Auch Entscheidungen wider die Realität wie die Aufnahme von Griechenland in die Währungsunion erschweren gemeinsame Lösungen. Schließlich hat sich durch die gleichzeitige Erweiterung und Vertiefung der EU eine gewisse Erschöpfung breit gemacht.
Mit dem Brexit muss nun erstmals die Rückabwicklung der jahrelangen Integration konzipiert und umgesetzt werden. Und neben den ohnehin bestehenden internationalen Krisen irritiert ein Präsident Trump mit Aussagen, die NATO sei obsolet oder Tallinn sei ein Vorort von St. Petersburg.
Wie auch immer sich die EU weiterentwickeln wird, sie muss Antworten geben auf die künftigen Herausforderungen:

  • Die Europäer werden weniger und im Durchschnitt älter.
  • Die EU ist zwar der größte Binnenmarkt der Erde, aber sein Anteil am weltweiten BIP geht drastisch zurück.
  • Europa sieht sich neuen Sicherheitsbedrohungen gegenüber und ist zugleich mehr auf sich gestellt.
  • Die Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa bedroht dort den sozialen Frieden und sät Zweifel am Wohlfahrtsversprechen der EU.
  • Schließlich verunsichert die Globalisierung und lässt nicht wenig Bürger an der Handlungsfähigkeit der etablierten Politik zweifeln.

Hierzu hat die EU-Kommission mit 5 Szenarien einen Diskussionsprozess angestoßen: Die EU könnte weitermachen wie bisher oder sie könnte sich auf den Binnenmarkt konzentrieren und sich aus anderen Politikfeldern zurückziehen. Europa könnte sich nach dem Prinzip „Wer mehr will tut mehr“ unterschiedlich weiterentwickeln so wie etwa nicht alle EU-Länder der Eurozone angehören. Die EU könnte sich auf wenige Politikbereiche mit einem europäischen Mehrwert beschränken, diese aber effizienter umsetzen. Dazu muss man aber einen Konsens erzielen, um welche Bereiche es sich handeln soll. Was aus deutscher Sicht notwendig ist etwa eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, sieht aus osteuropäischer Sicht ganz anders aus. Schließlich könnte die EU viel mehr gemeinsam Handeln wie es etwa der französische Präsident vorschlägt. Doch tun sich viele Länder schon jetzt schwer, Vorgaben aus Brüssel zu akzeptieren.
Da alle Vorschläge ihre Vor- und Nachteile haben, beschränkte sich Thomas Starke abschließend auf einige Impulse für die Diskussion: Ziel sollte nicht ein mehr oder weniger, sondern ein besseres Europa sein. Europa soll da handeln, wo die Mitgliedsstaaten allein nicht weiterkommen etwa bei der Sicherung der Außengrenzen oder einer verstärkten Zusammenarbeit bei der Verteidigung. Die EU muss Vertrauen zurückgewinnen. Das heißt, die EU soll nichts versprechen, was sie nicht halten kann. EU-Recht muss umgesetzt werden. Das setzt aber voraus, dass die EU zuvor umsetzbares Recht erlässt. So hat sich das Dublin-System, wonach Asylanträge in dem Land zu bearbeiten sind, in dem die Asylsuchende zuerst EU-Boden betreten von Anfang an als Fehlkonstruktion erwiesen. Europa muss für die Bürger konkreter erfahrbar werden sei es durch Austauschprogramme wie ERASMUS oder sei es durch die Abschaffung der Roaminggebühren bei Mobilfunktarifen. Und die EU darf bei allen technokratischen Regelungen die Emotionen der Bürger und ihre Bindung an ihre nationalen Kulturen und Traditionen nicht unterschätzen. Das eigene Vaterland zu lieben ist für viele Menschen eine Selbstverständlichkeit. Einen Binnenmarkt zu lieben, scheint dagegen unmöglich.

In der anregten Diskussion wurde deutlich, dass ein großer Wunsch besteht, europäisches Handeln verständlicher und erlebbarer zu machen. Die Bürger müssen anschaulich erkennen können, warum manche Dinge nur in größerer Gemeinschaft erledigt werden können. Andererseits dürfen Bürger von der EU auch einen hohes Maß an Respekt für die kulturelle Vielfalt der Mitgliedsstaaten erwarten. Das schließt die notwendige Sensibilität bei Kernfragen des nationalstaatlichen Selbstverständnisses mit ein wie das etwa an der Migrationsfrage deutlich wurde. Abschließend waren sich die Teilnehmer einig: Europa ist so wichtig, so dass wir die besten Köpfe nach Europa schicken müssen.