Feierstunde der Stadt Radebeul zu 30 Jahre Deutsche Einheit Grußwort von Dr. Ulrich Reusch, Vorsitzender der CDU-Stadtratsfraktion
Sehr geehrte Festgemeinde, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen!
30
Jahre Wiedervereinigung unseres Vaterlandes sind wahrlich besonderer
Anlass zur Freude. Gerne ergreife ich heute namens meiner Fraktion das
Wort, zugleich auch als Vorsitzender des Ältestenrates, da nicht alle
Fraktionen gesondert sprechen wollen.
Die Baumpflanzung, angeregt von der Fraktion Bündnis 90/Grüne/SPD,
bietet eine gute Gelegenheit, diesen Anlass würdig zu begehen. Wäre
nicht die Corona-Pandemie gekommen, hätte, entsprechend dem Antrag der
CDU, über das ganze Jahr 2020 verteilt der Stationen und Etappen auf dem
Weg zur Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands gedacht
werden können. Dann wären die Konsistenz und die Konsequenz dieses
historischen Prozesses ebenso deutlich geworden wie die Rolle der
verschiedenen Akteure und politischen wie gesellschaftlichen Kräfte, die
diesem Prozess Dynamik und Richtung gegeben haben und letztlich zum
Erfolg verhalfen. Der Weg zur deutsche Einheit verlief ja keineswegs
zwangsläufig, sondern wurde bewusst gestaltet und von der Bevölkerung
vor allem Ostdeutschlands getragen. So konnte, demokratisch legitimiert,
ein Fenster genutzt werden, das sich kurzfristig und womöglich einmalig
bot. Der Weg dorthin war, wie gesagt, kein Selbstläufer. Er wurde
gestaltet, und dafür bedurfte es vor allem dreier Voraussetzungen, die
sich wie rote Fäden durch die Geschichte ziehen und an denen immer
wieder gearbeitet wurde. Das möchte ich kurz skizzieren: Die
Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit war (erstens) nur möglich mit
Hilfe der Siegermächte von 1945 und mit Unterstützung unserer Nachbarn
in West und Ost. Es mag zunächst paradox klingen, aber ohne die feste
Verankerung der Bundesrepublik in der westlichen Wertegemeinschaft und
in Europa, maßgeblich gestaltet von Konrad Adenauer, wäre die Einheit
nie möglich gewesen. Ebenso unabdingbar war die Versöhnung mit den
früheren Kriegsgegnern im Osten, maßgeblich und gegen viele Widerstände
gestaltet von Willy Brandt, unterstützt von Walter Scheel und später
Hans-Dietrich Genscher. „Wandel durch Annäherung“ fand mit dem
KSZE-Prozess statt, ermutigte die freiheitlichen Kräfte zumal die
Gewerkschaft Solidarnosc in Polen und die Bewegung Charta 77 in der
Tschechoslowakei. Deren Protagonisten Lech Walesa und Vaclav Havel
begrüßen denn auch die deutsche Einheit als erste in Euro¬pa, als es
soweit war und als es entscheidend darauf ankam. Die Wiedervereinigung
war (zweitens) nur möglich, weil die Bundesrepublik auch in Zeiten der
Entspannungspolitik am Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und
damit am Selbstbestimmungsrecht der Deutschen als Nation festhielt. In
den 70er, vor allem aber in den 80er Jahren drohte dieser Konsens
verloren zu gehen. Viele in Westdeutschland hatten sich in der deutschen
Teilung bequem eingerichtet, mental, und manche auch
kom-merziell.Namhafte Vertreter der Sozialdemokratie wie Oskar
Lafontaine, aber auch einzelne Stim-men in allen anderen politischen
Parteien stellten die Wiedervereinigung als Ziel deutscher Politik
zumindest infrage. Ihnen schienen alternative Lösungen eines dauerhaften
Nebeneinanders zweier deutscher Staaten förderlicher für Frieden und
Zusammenarbeit in Europa, um es positiv auszudrücken. Helmut Kohl indes
hielt die bundesdeutsche Politik ab 1982 auf einem Kurs, der die
Wiedervereinigung zwar zunächst nicht, wie er sich aus-drückte, auf die
„Agenda der internationalen Politik“ hob, aber als die eigentliche
Option stets offenhielt – solange bis er sie mit Rückdeckung der USA und
im Einvernehmen mit der Sowjetunion Michael Gorbatschows tatsächlich
befördern konnte. In diesem historischen Moment prägte Willy Brandt das
vielzitierte Wort: „Es wächst zusammen, was zusammengehört“. Damals,
Ende 1989, war ich als junger Regierungsrat im Bundesministerium für
innerdeutschen Beziehungen in Bonn tätig und zutiefst beeindruckt: Hier,
in den Worten von Brandt, spannte sich für mich ein patriotischer
Bogen, der die unterschiedlichen Lager und Denkmuster ab 1949 verband
und eine verlorengeglaubte Gemeinsamkeit erkennen ließ. Mit diesem
überparteilichen Schwung ging die alte Bundesrepublik entgegen vieler
Kritiker, die nicht verstummten, in die große Herausforderung und
einmalige Chance der Wiedervereinigung. Die Wiedervereinigung war
(drittens und schließlich) nicht möglich ohne das Wollen und Wirken der
Landsleute in der DDR. Auch hier hatten sich viele, engagiert,
freiwillig oder notgedrungen, wenn nicht gar gezwungen, in dem Staat
eingerichtet, in dem sie lebten, manche gut, andere weniger gut. Die DDR
aber war auf Dauer nicht zu stabilisieren. Die massenhafte Abwanderung,
später Fluchtbewegung, die Willkür eines im Ansatz totalitären Regimes,
die Gängelung und Repression, die ineffiziente Planwirtschaft mit ihrer
Mängelwirtschaft ließen immer mehr Menschen an diesem Staat und System
zweifeln, wenn nicht verzweifeln und hielten den Wunsch nach
Wiedervereinigung wach, jedenfalls wacher und lebendiger als in vielen
Kreisen Westdeutschlands. Die friedliche Revolution von 1989 war die
conditio sine qua non für die Wiedervereinigung. Die Bürgerinnen und
Bürger der DDR erstritten sich das Recht auf Selbstbestimmung und
wählten am 18. März 1990 mit einer Beteiligung von über 93% eine
demokratisch legitimierte Volkskammer. Nur mit deren Beitrittsbeschluss
war die Wiedervereinigung möglich. Es erstaunt im Nachhinein immer
wieder, dass und wie stark das Bewusstsein, zu einer Nation oder zu
einem Volk zu gehören, 45 Jahre geteilter, in unterschiedlichen,
unvereinbaren Systemen getrennter Entwicklung überdauert hat. Dennoch
ist seit 30 Jahren immer wieder vom Ost-West-Gegensatz die Rede, als
gäbe es in Deutschland nicht auch einen womöglich nicht minder tiefen
Nord-Süd-Gegensatz. Heute können wir feststellen, dass jedenfalls in der
jungen Generation die Zuordnung Ost oder West nahezu bedeutungslos
geworden ist. Die deutsche Einheit ist für die jungen Menschen eine
Selbstverständlichkeit geworden. Aber bitte nicht, um sich darauf
auszuruhen. Die Geschichte macht selten Geschenke. Die Wiedervereinigung
Deutschlands war in gewisser Weise ein Geschenk, jedenfalls aber ein
Vertrauensvorschuss für ein Volk, in dessen Namen und durch dessen
Mittäterschaft die schlimmsten Verbrechen verübt wurden. Wenn wir uns
heute über die Einheit freuen und uns an unseren wieder blühenden
Landschaften erfreuen, sind wir dankbar und sind wir uns unserer
Verantwortung für den Frieden und die Freiheit in Europa und in der Welt
bewusst.